Es ist ein seltsames Jahr, das begonnen hat für Anna. Es begann mit einem Stechen links in ihrer Brust, das blieb. Irgendwo da, wo Anna nicht rankam, hat es sich eingenistet und jeder Pieks sagt, es ist noch nicht vorbei. Es fängt gerade erst an.
Als sie am ersten Tag des neuen Jahres nach Hause fuhr, war es da, es flüsterte Méfie-toi, es ist noch nicht vorbei, es fängt gerade erst an. Und es blieb.
Anna wurde krank um dieses Stechen herum, es stach, wenn sie Kinder um sich hatte, die eigenen und die der anderen. Es stach, wenn sie Erwachsene um sich hatte, ihr wohl gesonnene und die anderen. Ein Mann - oder war es ene Frau?- warf eine Dose nach ihr und nannte sie Schlampe. Anna hielt kurz inne, das war sie nicht, aber sie musste doch ein wenig nachdenken, um sicher zu sein. Sie zog die Braue hoch und sprach mit ihren Freundinnen darüber. Die ihr sagten, Anna, pass auf, so nicht, lass es sein. Anna ließ es nicht sein. Anna ging weiter. Stehen bleiben, das war auch nicht Anna.
Das Problem war, dass Anna irgendwann nicht mehr recht wusste, was oder wer oder wie Anna war. Und dass das geschah, als sie den Kindern, die nicht ihre waren, gerade die W-Fragen erklärte, spielt fast gar keine Rolle. Das Stechen stach und stach immer schneller und Anna blieb endlich stehen. Und legte sich hin und sah anderen eine Woche lang beim Leben zu. Weil ihres nicht ging.
Sie versuchte Signale zu senden, aber das Stechen muss sie abgefangen haben. Sie versuchte, ein Glück zu mobilisieren, aber das Stechen hatte das Glück erdolcht oder zumindest lag dies in einer profunden Ohnmacht. Anna legte sich dazu. Es blieb ihr nur abzuwarten.
Sie wartete eine Woche, dann wurde das Stechen schwächer. Kein Grund zur Freude, Anna wusste, es war noch da, raunte, noch nicht vorbei, es fängt gerade erst an... Das wusste Anna ja nun, dass es nie einfach so vorbei sein würde.
Als das Loch in ihr Fenster und in ihre vermeintliche neue Ruhe flog, war sie kaum überrascht. Als ein Glaser kam und es "absicherte", horchte sie fast ganz ohne Hoffnung in sich - und nein, es war immer noch da. Auch eine Kugel in ihrer Wand konnte das Stechen nicht vertreiben. Wie sollte es auch?
Anna fuhr ein paar Tage in die kleine Stadt, in der das Kino geboren wurde und trank einen Kaffee unter Graffitis, die da gestern noch nicht gewesen waren. Sie schaute einen Film und sie küsste einen Mann und sie kaufte sich ein Buch. Sie rauchte eine Zigarette und trank zwei Gläser zu viel. Sie tat alles, damit das Stechen schwieg, nur ein paar Tage lang. Als sie im Zug zurück in ihr Leben saß, war es wieder da. Fast schon vertraut inzwischen, nicht vorbei, es fängt gerade erst an.
Als der beste aller Freunde kam, legte es sich kurz schlafen. Ein Wochenende lang vergaß es Anna. Es gab ihr die Zeit für ein paar Kaffee zu viel, tausend Lachen und doch zu wenig, und einen fröhlich nassen Spaziergang am Meer. Oder war es im?
Und dann war es wieder da, hatte Kräfte gesammelt und stach heftiger denn je. Es zog in den Bauch und machte Anna Angst vorm Leben und Angst vorm Sterben. Und als auch das vorbei ging, hatte Anna gelernt, dass es besser zu ertragen war, wenn sie nicht drüber sprach, mit dem Stechen alleine blieb. Egal, was die Menschen sagten, die ihr nahestanden: nichts wurde beser, wenn sie sagte, wo es stach. Es stach dann einfach woanders und mit doppelter Kraft. Und vielleicht stach es sogar die anderen.
Anna hat sich belesen über diese Art von Stechen. In ihren eigenen Texten und denen der anderen. Sie kennt es gut, sie weiss, es war immer da. Es hatte vorher nur keinen Namen und war schwächer, jünger, kannte Anna noch kaum. Manchmal blieb es lange weg, tatso, als hätte das Glück gewonnen. Aber es würde immer wieder kommen. Die Kunst, hatte Anna begriffen, lag darin, nicht gegen es zu leben. Sich selbst zu trauen, immer ein bisschen mehr als den anderen, denen sie immer ein bisschen mehr zuhören sollte als sich selbst. Weiter zu gehen, auch wenn das Stechen stärker würde. Irgendwann wird es müde werden. Länger durchzuhalten als das Stechen in der eigenen Brust.
Denn dieses Leben, denkt sich Anna, es ist noch nicht vorbei, es fängt gerade erst an.